Die Protestgruppe „Letzte Generation“ hat eine Gesellschaftstherapie angezettelt. Das ist bisher kaum verstanden worden. Kann die Therapie einer ganzen Gesellschaft funktionieren? Oder ist diese Idee nicht allzu verwegen?
Woran leiden wir? Objektiv gesehen ist unsere Zivilisation durch Klimakrise, Artensterben und Überkonsum bedroht. Wobei wir uns durch unser eigenes Verhalten selbst gefährden und erst in diese Lage gebracht haben.
Wie es dazu kam, ist schnell erzählt. Die Erfindung des Kapitalismus hat uns globalen Reichtum beschert. Dieser war stets schlecht verteilt, aber führte dennoch zum Anwachsen der ganzen Menschheit. Dabei hat er Menschen reich und einflussreich gemacht. Sie sehen keinerlei Grund dafür, irgendwas am System zu ändern. Und die überwiegende Anzahl an Menschen in den Industrieländern gehört ebenfalls zu den Gewinnerinnen - und sieht dies dementsprechend ähnlich. Das gilt, solange es noch irgendwie weiterzugehen scheint und die Lage für sie einigermaßen kontrollierbar wirkt. Ohne Störung dieses stillschweigenden Einverständnisses geht es so weiter - in den Abgrund.
Notwendig ist ein radikaler Umschwung – dies hat die Wissenschaft eindeutig festgestellt. Aber wie kommen wir dahin?
Die konsequente Störung gewohnter Abläufe ist das, was die Letzte Generation am meisten auszeichnet. Damit erzeugt sie eine Art Leidensdruck der Gesellschaft: der notwendige Beginn des therapeutischen Prozesses.
Die Menschen in Deutschland zu fragen, wie sie Straßenblockaden oder das Bekleckern von Glasscheiben vor Kunstwerken finden, ist dementsprechend weitgehend sinnfrei. Konfrontation und Störung sind notwendig und dürfen und können gar nicht gefallen.
Die Frage an die Letzte Generation muss stattdessen lauten: wie verbindet ihr die Konfrontation mit Akzeptanz/Wertschätzung? Denn das ist der zweite, notwendige Bestandteil der Gesellschaftstherapie.
Als weiteres Moment kommt dazu: das Ziel der Gesellschaftstherapie muss immer der Dialog sein – denn Menschen ändern sich nur freiwillig. Äußere Umstände sind nie hinreichend, um bestimmte Handlungen zu verursachen.
Man denke an Menschen, die noch in der Extremsituation eines Konzentrationslagers auf Sinnsuche waren. Die sich zu einem Hungerstreik entschließen. Die schwerst an Lungenkrebs erkrankt weiterrauchen. Die sich suizidieren.
Keine äußeren Bedingungen können uns also zu etwas zwingen: so gilt auch für Gesellschaft und Politik bzw. die Gesellschaftstherapie: nur der Dialog führt zum Ziel.
Die erste Phase der Gesellschaftstherapie ist gekennzeichnet durch das Erlangen großer Aufmerksamkeit. Fridays4Future glückte dies vor ein paar Jahren mit Schulstreiks und Massenprotesten. Die Letzte Generation mit ihren radikaleren Aktionen gelangte mit sehr viel weniger Menschen dahin. Ihre Aktionen sind in aller Munde. Nur wenn diese Dimension gegeben ist, können wir von einer Gesellschaftstherapie sprechen!
Die politische Aktion kreiert einen Modus, in dem sich die Gesellschaft ihrer selbst vergewissert, die Beharrungskräfte herausgefordert sind und die Frage ist, ob sie moralisch und diskursiv bestehen können.
Dazu ist die Beharrlichkeit der Störenden erforderlich. Jeden Freitag auf die Straße und alle paar Monate einen immer noch größeren global strike - so klappte es bei Fridays4Future. Ständig wiederkehrende Blockaden, das Verbrennen eines Kinderwagens vom Kanzleramt uvm. waren Aktionen der Letzten Generation.
Nur wenn die Gesellschaftstherapeut:innen vielfältig agieren und nicht locker lassen, kommt der gesellschaftstherapeutische Prozess in Gang. Demonstrations- und Aktionsroutinen sind hingegen Gift für ein Fortkommen. Schließlich ist die "alte" Gesellschaft stets bemüht, die Störungen zu verschlingen und in einen geordneten Verdauungsprozess zu überführen (via Kriminalisierung oder Umarmung).
Ein natürlicher Bestandteil des Prozesses ist es, wenn die konservative Seite mit maximaler Erregung reagiert. Sie denkt, sie arbeitet damit gegen die Störungen – doch in Wahrheit trägt sie damit zu ihrem Erfolg bei. Da sie jedorch gar nicht anders kann, als genau so zu reagieren, ist auf sie Verlass.
Wenn ich behaupten würde, dass zur Zeit viel über die Letzte Generation und ihre Aktionsformen diskutiert wird, würde ich wohl langweilen - denn das scheint allen maximal klar. Was ich jedoch behaupte: es passiert etwas völlig anderes! Wir diskutieren weder über die Inhalte noch über die Aktionen.
All die scheinbaren Debatten dienen einem völlig anderen Zweck. Die Letzte Generation stört unser Leben und noch viel mehr unser Selbst- und Weltbild, auf dem wir unser Leben aufbauen und in das wir alle Informationen einsortieren. Zu unserem Selbst- und Weltbild gehört es, dass wir gute Menschen sind. Das gilt unabhängig davon, was wir tatsächlich tun – leider.
Wir würden nie, so sehen wir uns selbst, andere Menschen gefährden. Auch nicht die im globalen Süden. Wir würden aufstehen und handeln und aktiv für Frieden, Freiheit und Wohlsein eintreten. Und auf jeden Fall und unbedingt aber sind wir gute Eltern und sorgen für unsere Kinder und Kindeskinder.
Die Fakten sprechen eine andere Sprache. Die Klimaforschung zeigt uns die hässliche Fratze unseres Lebensstils auf. Und die Letzte Generation stößt uns mit der Nase darauf. Weder Winter noch Schnee halten sie auf. Sie werden beschimpft und mitunter körperlich attackiert. Sie nehmen Geld- und Haftaufenthalte auf sich. Ihre stille Anklage trifft uns im Innersten: können wir wirklich behaupten, genug zu tun, mit unserem Weiterso?
Es geht also um uns selbst. Um unser Bild von uns selbst. Die Letzte Generation stellt uns vor die Herausforderung zu klären, wie wir uns als gute Menschen begreifen und trotzdem alles im Wesentlichen genau so weitermachen können, wie bisher.
Wir täuschen uns radikal darin, was Protestbewegungen sind und mit uns machen. Die ganze Klimabewegung und sogar die Gesellschaftstherapeut:innen selbst können sich noch klarer werden, wo wir stehen und was jetzt zu tun ist.