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„Wenn ein Mensch sich selbst verletzt, würden wir auch eingreifen“ – Lars Werner im Interview

Christoph Burger • 9. Dezember 2022

Du bist Vollzeit-Aktivist und Gesellschaftstherapeut. Was machst du?

Ich blockiere Straßen, habe auch schon Pipelines abgedreht. Hauptsächlich mache ich mir aber Gedanken, wie wir die kollektive Verleugnung überwinden. Die Verleugnung der existentiellen Bedrohung, in der wir stehen. Dazu schule ich Menschen in Gewaltlosigkeit. Wenn wir nicht friedlich vorgehen, sinken die Chancen gegen null, dass da etwas Besseres entsteht.

Beim einzelnen Menschen erwarten wir eine grundlegende Veränderung dann, wenn Konfrontation und Akzeptanz (Wertschätzung) zusammenkommen. Passt das auch für die Gesellschaftstherapie?

Ja, das passt. Das ist genau der Ansatz, den wir verfolgen. Das Unterbrechen des Alltags ist die Konfrontation mit der Verleugnung. Und gleichzeitig wollen wir eine akzeptierende Haltung einnehmen. Wir sagen ganz explizit nicht zu den Leuten auf der Straße, „du bist schuld“. Sondern adressieren die Regierung und sagen: „wir sitzen hier alle gemeinsam drin“.



Das ist ja was sehr Therapeutisches. Wir handeln als Gesellschaft so, dass wir uns selbst vernichten. Das ist die Ausgangslage. Wenn wir einen Menschen haben, der drauf und dran ist, sich selbst zu vernichten, durch Selbstverletzung zum Beispiel, dann würden wir auch eingreifen. Auch wenn der das gar nicht will in dem Moment. Dann würden wir mit einer akzeptierenden Haltung handeln und versuchen, der Person zu helfen. In dem Glauben daran, dass wir leben wollen.

Vor ein paar Monaten dachte ich noch: die LG könne konfrontieren, andere könnten akzeptieren. Heute bin ich überzeugt, dass beide Rollen in einer einzigen Gruppe zusammenkommen müssen. Wie ist deine Meinung?

Ja, das würde ich auch so sehen. Das muss Hand in Hand gehen.

Wenn wir von der Grundformel „Kleben und Reden“ ausgehen: muss das Reden da nicht stärker betont werden?

Da würde ich zustimmen. Wir versuchen bereits, mit allen in den Dialog zu gehen und die Leute mitzunehmen.

Aktionen wirken immer stärker als Worte. Also am Beispiel: Autofahrer:innen werden im Alltag blockiert. Das ist die Aktion. Der „Begleit-Text“ der LG ist: wir meinen gar nicht euch, sondern die Bundesregierung. Da wirkt doch die Blockade viel stärker, oder?

Ja, eine Blockade wirkt in diesem Moment richtig stark. Für mich persönlich sind die Straßenblockaden auch wirklich schwierig, weil ich mit den Leuten mitfühle. Ich halte mich dann an den Leitspruch des Therapeuten Yalom: „das Eisen schmieden, solange es kalt ist“. Das heißt hier: das Reden kommt erst hinterher, wenn durch die Konfrontation der Diskussionsraum eröffnet wurde.

Straßenblockade, Lars Werner hält mit einer Mitstreiterin ein Banner:

Meine Beobachtung bei Blockaden ist: wenn ich den Autofahrer:innen sage, dass wir das hier alle scheiße finden, auch die Leute, die blockieren, sind die schon runtergekühlt. Dann kann man mit denen schon reden. Außerdem frage ich sie, ob sie eine bessere Idee haben, wie wir aus der Klimakrise kommen. Das geht. Sollten zu zehn Leuten, die blockieren, mindestens zehn Leute kommen, die reden?

Ja, ich hatte vor allem an die gedacht, die das am schlimmsten finden. Aber viele sind gar nicht so aufgebracht. Dann kann man schon auch vor Ort reden. In München ging das schon in der Richtung. Da waren Menschen bei der Blockade, da wurde schon diskutiert, warum das jetzt hier stattfindet. Es könnte Redebeiträge geben, man kann Miteinander ins Gespräch kommen. Das Ganze wird zu einem gesellschaftlichen Ereignis. Das kann ich mir sehr gut vorstellen.

Dazu auch Aktionen, die an sich schon dialogisch angelegt sind? Als beispielsweise an Herrn Wissing die 500 Tempo-100-Schilder geliefert wurden, ging das in dieser Richtung. Das war eine Reaktion auf seine Behauptung, für ein Tempolimit würden die Schilder fehlen. Letztlich kann nur der Dialog in der Gesellschaft wirken, oder?

Ja, da stimme ich zu.

Von der Individualtherapie wissen wir: Therapeutinnen und Therapeuten können Konfrontation und Akzeptanz noch so professionell und kunstvoll kombinieren, am Ende entscheiden die Menschen aus freien Stücken, ob sie sich ändern wollen. Wie siehst du es, kann man das für die Gesellschaftstherapie übertragen? Gilt hier auch dieses „freiwillig“ als einzige Option?

Ja, auf jeden Fall. Wir wollen niemanden erpressen oder zu etwas zwingen. Das können wir auch gar nicht, weil wir zu wenige sind und weil wir keine Gewalt ausüben. Was stattdessen passiert: wir geben uns hin, wir können abführt und verhaftet werden. Wir sagen einfach nur, was wir machen und machen das. Und dann ist die Gesellschaft vollkommen frei darin, sich zu entscheiden, was sie mit dieser Einladung machen möchte.

Vielen Dank für das Gespräch!

Lars Werner ist studierter Psychologe und in der Ausbildung zum Psychotherapeuten. Seit der Gründung der Protestgruppe „Letzte Generation“ ist er dort Aktivist und Mitglied des erweiterten Strategieteams. In München war er wegen zwei Straßenblockaden 23 Tage in Gewahrsam.


Beitrags(haupt)foto: Stefan Müller


Eine Beschreibung der Gesellschaftstherapie aus Sicht des Interviewers findet sich hier.

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