Olaf Scholz gebührt nicht nur die Kanzlerschaft, er ist auch Spitzenpolitiker im Verdrängungstheater. Verdient hat er sich diese Position durch seine Sätze zur Letzten Generation. Die Protestgruppe sollte ihre Aktionen mal „zu Ende denken“ und sie bitteschön „kreativer“ gestalten, meinte er. Heißt das, der Bundeskanzler würde uns eine entschlossene Klimapolitik präsentieren, wenn nur die Aktionen etwas anders daherkämen?
Eine absurde Vorstellung. Der Kanzler schreibt ein gewisses Qualitätsniveau für Proteste vor. Sobald es erreicht ist, ändert er seine Politik. Natürlich nicht!
Es ist das Verdrängungstheater, das hier seit Jahrzehnten aufgeführt wird. „Es gibt keine Klimakrise“ – „wir haben noch Zeit“ – „so schlimm wird es nicht“ – „wir können nichts ändern“, sind die Klassiker. Von Zeit zu Zeit geben sich bekannte Nebenrollen die Ehre. „Der kleine Mann“ (muss sich einmal im Jahr seinen Mallorca-Flug leisten können). Die Krankenschwester (fährt einen alten Diesel und wohnt auf dem Land). Der Fusionsreaktor (oder neue oder alte AKW - werden uns mittels „Technologieoffenheit“ retten). Die taz erfand dafür das Wort „Phantomreaktor“. Ein hehrer Versuch, das Verdrängungstheater zu brandmarken. Aber solange so ein Phantomreaktor genügend ernsthafte Fans findet, wird er leider weiter auf der Bühne herumgeistern.
Und die Union, assistiert von der Springerpresse, führte uns das Kunststück vor, friedliche und mit Namen und Gesicht agierende Menschen der Letzten Generation in eine „Kriminelle Vereinigung“ zur verwandeln. Während sie die „Klima-RAF“ aus dem Hut zaubert, lässt sie die einstigen Schreckgespenster der Fridays For Future als vorbildlich leuchtende Sternchen am Adventshimmel funkeln. Was für eine Dramaturgie!
Die Letzte Generation bezieht sich auf die Wissenschaft und spricht angesichts drohender Kippunkte von 2-3 Jahren, die uns bleiben, um die schlimmsten Auswirkungen der Klimakrise einzudämmen. Die Mitglieder des Bundestags betonen, jedwede Protestaktion müsse selbstverständlich legal sein. Die naheliegende Rückfrage lautet: trauen Sie dem normalen Parlamentarismus zu, in 2-3 Jahren die Kehrtwende einzuläuten? Nie im Leben würden sie dies behaupten! Aber die Frage wird eben nicht gestellt - bzw. nicht beantwortet. Der Held der parlamentarischen Debatte tritt auf, spricht gewaltige Sätze, tritt wieder ab. Das wars. Die nächste, bitte. „Geduld!“ wird gefordert, besonders von Jüngeren. Klingt irgendwie weise. Ist der Physik aber schnuppe.
Als Meister des Effekts 2022 in der Kategorie Privatperson küre ich indessen einen Zuhörer meines Vortrags zur Klimakrise. Am Ende maulte er: „Ich bin jetzt schon ein wenig enttäuscht. Ich dachte, Sie sagen uns, was man selbst gegen die Klimakrise tun kann!“ Also sage ich (erneut): vorrangig ist die politische Aktion gefragt. „Kommen Sie zur Groß-Demo am Samstag. Nehmen Sie an der Wortblockade teil und schreiben Sie an den Bundeskanzler. Sie können auf Fleisch, aufs Fliegen und aufs Autofahren verzichten, das wäre wichtig.“ Seine Antwort: „Auf Demos gehe ich nicht, das ist nicht so mein Ding. An Olaf Scholz schreibe ich nicht. Fleisch essen, Autofahren und fliegen – mache ich alles weiter.“ Und dann noch: „Das ändert doch nichts, wenn ich das nicht mehr mache.“ Meine Entgegnung: „Wenn Sie jetzt aufstehen und sagen, okay, ich verzichte auf Fleisch, Fliegen, Autofahren, dann wird das hier im Saal alle enorm beeindrucken. Sie werden es weiter erzählen, es wird sich herumsprechen. Ich werde es veröffentlichen!“ Aber das hat nichts verändert. ER WILL NICHT.
Es ist wie beim Kanzler mit seiner perfekten Protestaktion, bei der FDP und ihrem Phantomreaktor, bei der Union und ihrer Klima-RAF, bei den MdBs und ihrem Parlamentarismus. Es ist ganz schlicht und einfach: SIE WOLLEN NICHT. Stattdessen führen sie ein Verdrängungstheater auf, um anderen und sich selbst etwas vorzugaukeln. Ihre Selbstinszenierung: eigentlich sind wir Heldinnen und Helden, nur leider halten uns widrige Umstände davon ab, echte Taten zu vollbringen.
Angesichts unserer schrecklichen Situation grassiert das Verdrängungstheater auch mitunter in der Klimabewegung. Warum auch nicht, wir sind auch Menschen! Aber selbstkritisch. Deshalb schauen wir uns die Elemente unseres eigenen Schauspiels und seiner Unzulänglichkeit mutig an.
Die große Dimension verleugnend laben wir uns an den vielen kleinen Schritten, die doch überall zu beobachten sind. Nur: wir müssen aus dem Kapitalismus aussteigen und zum grünen Schrumpfen wechseln. Das ist die Dimension, um die es geht. Und zwar jetzt.
"Ich habe neulich mit xy gesprochen - die wollen jetzt zur Demo kommen!". "Der Vortrag gestern lief total gut!" Scheinbar überall ist Bewegung in der richtigen Richtung. Ja. Wer etwas bewegt, fühlt sich selbst wirksam, das ist wichtig. Nur: mit Blick aufs Große Ganze muss das leider ganz anders eingeordnet werden. Die Klimabewegung ist um Dimensionen stärker, als vor ein paar Jahren. Aber die Kippunkte sind leider auch sehr viel näher und kommen rasend schnell daher.
Unter uns Psycholog:innen besonders beliebt. Wir übertragen unsere Erfahrungen in der Therapie auf die Gesellschaft. Haben die Menschen in den letzten Jahrzehnten einfach zu wenig gefühlt, um die Klimakrise ernst genug zu nehmen? Hat sich da niemand mit Psychologie ausgekannt und die Menschen ins Fühlen gebracht?
Wir müssen einfach nur mehr werden. Würden sich nicht Hunderte auf die Straße setzen, sondern viele Tausend, wäre das schon ein ganz anderer Schnack. Richtig. Aber wie war das noch mit den 1,4 Millionen und dem Klimapäckchen? Klar, lasst es uns trotzdem versuchen. Qualität alleine genügt nicht. Macht ist ein politisches Element - aber reicht nicht aus. Wegen freier Entscheidung und so (s.u.).
Hätten wir nur konkretere Ideen der neuen Öko-Welt, die uns erwartet. Wir wissen, wie es ist, im Bioladen einzukaufen oder durch die Natur zu spazieren. Noch stärker wirkt es, ein ganzes Ökodorf zu erleben. Warum nur sind trotzdem Millionen Menschen derart mit ihren entfremdeten Lebensstilen verwachsen und wollen sie einfach nicht aufgeben? Wo es doch so viel Besseres gibt?
Einfach mal anfangen und die Dinge umgestalten. Nichts wirkt so sehr, wie das Beispiel! Ja, das bringt etwas - und schadet nichts. Das stört den Lauf des Kapitalismus nicht, wenn wir im Kleinen unsere Experimente betreiben. Deswegen lassen uns die Kapitalismus-Fans ja auch machen.
Wollen wir dem Ganzen entfliehen, müssen wir von außen auf das Theater blicken. Wir müssen realisieren, was zum Theater gehört, als Rolle, Requisit, Inszenierung. Es ist fast alles. Wir müssen der Realität bestmöglich ins Auge schauen: „sie“ wollen nicht! Es drängt aber. Wir stehen kurz vor dem irreversiblen Auslösen wichtiger Kippunkte. Wir brauchen einen Plan. Und einen Bezugspunkt.
Als Plan habe ich (zusammen mit Lars Werner) die Gesellschaftstherapie vorgeschlagen, die die Letzte Generation angezettelt hat. Während die Gruppe scheinbar auf direkte Wirkung setzt, könnte sie indirekt wirken und uns aus dem Verdrängungstheater befreien.
Als Bezugspunkt schlage ich die Weiterentwicklung der Menschheit vor. Um das konkreter zu machen, können wir uns die Forschung zur Ich-Entwicklung anschauen. Da lernt man zum Beispiel
Zum Abschluss: Ich bin sicher, dass Sie nun lieber zu ihrem Lieblings-Verdrängungsmechanismus zurückkehren. Oder sollte ich mich gar täuschen? Das würde ich gern.