Selbst Klimawissenschaftler:innen sagen hoffnungsvoll: „Noch ist es nicht zu spät - wenn wir jetzt handeln.“ Doch das ist genau dasselbe wie: „Wenn wir nicht bald handeln, ist es zu spät“! Und dieses Handeln bleibt nach wie vor aus. „Megatrend Aussterben“ ist eine Formulierung, die dies deutlich macht.
In Deutschland herrscht ein Ausnahmezustand: wegen Putins Angriffskrieg, so wird gesagt, werden entscheidende Schritte herausgezögert. Kein Tempolimit, kein Abbau der fossilen Subventionen. „Wir sind noch nicht so weit.“ Nur: vor dem Krieg waren wir es auch nicht. Und die anderen Länder? Sind es auch nicht. Kein Land ist auf Kurs. Dies verdrängen (fast) alle: von den Normalos bis zur Klimabewegung. In dem Sinne, dass wir den drastischen Gefühlen und Konsequenzen ausweichen.
Beim Verdrängen ist uns fast jedes Mittel recht. Jede mögliche Gelegenheit dazu wird dankbar aufgegriffen. Als kleines Beispiel, wie subtil diese Wirkungen sind, sehen wir uns eine – auf den ersten Blick völlig unverdächtige Formulierung – einer Tagesschau-Meldung an.
Die Tagesschau berichtete von der letzten CDU-Vorstandsklausur, die Partei setze im Kampf gegen den Klimawandel auch auf die Verlängerung der AKW-Restlaufzeiten. Wie gesagt: das klingt normal. So reden wir hier. Doch es klafft ein Abgrund zwischen dem, was wirklich passiert und dem, was die Formulierung besagt. Die Meldung bedeutet: die CDU kämpft gegen die Klimakrise. Und die Verlängerung der AKW-Restlaufzeiten sind eines ihrer Mittel. Doch eigentlich kämpft sie nicht gegen die Klimakrise. Und ihr Reden über die Atomkraft hat den Zweck, genau dies zu verdecken.
Richtig müsste die Meldung lauten: „die CDU setzt im Kampf gegen das, was die Klimakrise erforderlich macht, auch auf die Verlängerung der AKW-Restlaufzeiten“. Denn mit dem Getöse über die Atomenergie, das die CDU seit Monaten veranstaltet, verdeckt sie vor allem, dass sie alle jetzt dringend notwendigen klimapolitischen Notfallmaßnahmen blockiert oder behindert.
Die CDU ist nicht soweit. Die Medien sind nicht soweit. Die FDP ist nicht soweit und bremst in der Ampel. Und die Grünen? Sie tragen die FDP-Blockade des Tempolimits mit und lassen Lützerath abbaggern.
Selbst die Klimabewegung gibt sich allzu oft im Verdrängungstheater die Ehre – und beruhigt sich dadurch selbst. Das führt im schlimmsten Fall dazu, dass das Problem um Dimensionen zu klein gefühlt und gedacht wird. Verständlich, aber fatal.
Was wir als Spezies jetzt brauchen, ist eine Gesellschaftstherapie. Eine Antwort auf die kollektive Verdrängung. Ein Prozess der Weiterentwicklung, der uns zur Überlebensfähigkeit bringt. Der Begriff der Gesellschaftstherapie ist erklärungsbedürftig. Von Gesellschaftstherapie können wir erst dann sprechen, wenn sich ganz Deutschland verunsichert fühlt und daher nach Lösungen sucht, mit einer Störung umzugehen. Diese Situation entsteht erst dann, wenn eine Bewegung bzw. Störung derart massiv geworden ist, dass das übliche Ignorieren und Kleinreden der herrschenden Strukturen versagt.
2019 gab es diesen Moment infolge der FFF-Proteste, die bis dahin immer größer wurden und immer weitere Kreise der Gesellschaft erfassten. Die Wirkung ist bis heute spürbar und hat viele Länder sanft auf einen stärkeren Klimagerechtigkeitskurs bewegt. Die disruptive Wirkung aber ist inzwischen verblasst. Die global strikes erhalten den Druck aufrecht. Verstören können sie aber nicht mehr.
Halten wir zunächst fest, um Missverständnisse zu vermeiden: unsere Therapeut:innen kommen nicht aus der Psychologie! Es sind diejenigen, die protestieren und die Proteste organisieren – etwa Lars Werner von der Letzten Generation, den ich hier dazu befragt habe.
Genausowenig, wie die Gesellschaft genau verstehen muss, was hier passiert, verlangt die Wirksamkeit der Letzten Generation, dass jeder Mensch der Protestgruppe genau erklären kann, wie diese Gesellschaftstherapie funktioniert. Es geht nichts ums Erklären, sondern ums Tun! Und darum, was sich aus diesem Tun ergibt. Die Gesellschaftstherapie ist eine Therapie der Tat. Was die Letzte Generation tut, wird sie weiter tun, selbst dann, wenn sie irrt und ins Leere läuft. Sie wird weiter handeln und die Gesellschaft konfrontieren. Im dynamischen Handeln begriffen lässt sie sich schwer umlenken. Das Bild vom Riesen und der trägen Masse passt auch hier. Das System funktioniert, wie es funktioniert.
Der erste Schritt der Gesellschaftstherapie ist also eine massive Störung des Status Quo einer Gesellschaft. Und wenn der Protest einmal auf diese Ebene gehoben wurde? Dann sollte die Konfrontation sorgsamer dosiert werden.
Jede Veränderung beginnt mit ausreichendem Leidensdruck. Doch der Leidensdruck ist nicht das Ziel. Er ist lediglich der Beginn des Heilungsprozesses. Das bedeutet nicht, dass die Konfrontation nur in der ersten Phase notwendig ist. Das Aussetzen der Konfrontation wird immer nur eine Pause sein können. Dabei muss Kommunikation nicht reden und zuhören bedeuten. Auch Aktionsformen können einen kommunikativen Charakter haben. Ein Beispiel: Verkehrsminister Wissing sagte, er könne kein Tempolimit einführen, weil er gar nicht genug Schilder habe. Die Letzte Generation lieferte dem Verkehrsministerium daraufhin 500 Tempo-100-Schilder.
Aus dem Blickwinkel der Gesellschaftstherapie betrachtet, können wir uns über die CDU/CSU und die Springerpresse nicht beklagen. Sie haben ihren Part wunderbar übernommen. Indem sie die Rolle des kriminellen Klimaaktivisten ins Verdrängungstheater eingeführt haben, verschafften sie der Letzten Generation überwältigende Aufmerksamkeit. Das (unbewusste) Ziel der Beharrungskräfte war: „Ihr braucht die Botschaften der Letzten Generation nicht zur Kenntnis zu nehmen, weil das Kriminelle sind“.
Um die Therapie voran zu treiben, müssen jetzt jene Teile der Gesellschaft reagieren, die des Kriminellen unverdächtig sind. Sie müssen erklären, dass die grundsätzliche Botschaft der Letzten Generation keinesfalls überzogen ist.
Die Gesellschaftstherapie kann nicht von einer einzigen Protestgruppe gewuppt werden. Entscheidend ist daher, wie der Rest der Klimabewegung und die engagierten Teile der Gesellschaft auf das Momentum reagieren, das die Letzte Generation geschaffen hat.
Die träge Masse Gesellschaft hat über viele Jahrzehnte hinweg eine dicke Kruste angelegt. Sie besteht aus Beharrungskräften und Abwehrmechanismen. Reden hilft da wenig. Noch weniger, als andere der Letzten Generation sagen können, was sie tun oder fordern soll, funktioniert das bei der ganzen Gesellschaft.
Wenn aber beispielsweise Union und Springerpresse das tun dürfen, wofür sie wie geschaffen sind, entfalten sie ihre Wirkung und treiben die gesellschaftliche Entwicklung voran. Dazu müssen sie nicht verstehen, was passiert. Sie müssen es nur tun. Daran sieht man gut, wie Gesellschaftstherapie und Verdrängungstheater funktionieren. Störe das System und schaue, was passiert.
Wenn es gelingt, den Riesen an der richtigen Stelle zu kitzeln, kann eine kleine Feder enorme Kräfte wecken. Und wenn der Riese in Aufruhr ist, muss man mit ihm reden. Die Feder in der Hand.