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Warum die Klimabewegung zu klein denkt

Christoph Burger • 24. Mai 2023
Wieder mal so ein Treffen der Klimabewegung: wo stehen wir, wie kommen wir weiter? Spätestens seit Herbst 2019 geht das so. Was daran auffällt: die Bewegung denkt - schon immer - eine Nummer zu klein.

Dimension des Problems

Eigentlich sind sich alle einig: Die Klimakrise ist gigantisch, ebenso ihr Hintergrund. Seit rund 250 Jahren wirtschaften wir exponentiell wachstumsorientiert. Schrieben wir dies fort, müssten im Jahr 2100 sechzehn mal so viele Güter produziert und verkauft werden, wie im Jahr 2000! 16 mal mehr Autos, Heizungen, Smartphones – momentan noch fast alles mit fossiler Energie erzeugt und betrieben. Jahr für Jahr fließen zig Billiarden Dollar in diese Prozesse. Unsere Arbeitsplätze wie auch die Staatsfinanzen hängen davon ab. Ein System, das alle Aspekte unseres Lebens durchzieht und das fest in unseren Köpfen verankert ist.


Und das alles wollen wir mit unserer „Klimabewegung“ ändern? Echt jetzt?


Wenn wir das riesige Ausmaß der Herausforderung ernst nehmen, müssen wir uns eingestehen: Die Klimabewegung kann dieses allumfassende System nicht umkrempeln. Höchstens modifizieren.


Das ist genau das, was aktuell passiert. Dies ist schwer genug erkämpft und erfordert beständige Anstrengung.


Dennoch: am Ende genügt Modifikation leider nicht! Was brauchen wir also? Welche Dimension müssen wir denken? Durch welche Begriffe müssen wir „Klimabewegung“ und „Klimapolitik“ ersetzen, um richtig zu erfassen, dass ein weltumspannendes, allgegenwärtiges, viele Billiarden Dollar schweres System überwunden werden muss?


Dieser nötigen Umwälzung entspricht keine Bewegung innerhalb der Gesellschaft. Wir brauchen keine stärkere „Klimabewegung“, sondern eine Bewegung der gesamten Gesellschaft! Wir brauchen einen Epochenwechsel! Etwas in der Größenordnung der Aufklärung oder des Christentums.

Gesellschaft vor dem sozialen Kipppunkt

Nah dran an diesem beginnenden Epochenwechsel waren wir in Deutschland bisher zwei mal. Eine dritte Chance wurde uns auf dem Silbertablett offeriert – aber leider nicht als solche erkannt.


Vom Beginn von FFF an entfaltete sich eine ungeahnte Dynamik. Im Schnelldurchlauf machte die Verdrängungsgesellschaft die üblichen Schritte durch: Ignorieren, Diskreditieren, moderates Entgegenkommen. 1,4 Millionen Menschen waren im Herbst 2019 allein in Deutschland auf der Straße.


Darauf folgten das Klimapäckchen und Corona. FFF schrumpfte wieder, irritierte die Gesellschaft als Ganzes nicht mehr. Mit einer immer noch nervigen, aber schrumpfenden FFF konnte die Gesellschaft ihren Frieden machen. Die Modifikation wurde angestoßen und läuft seither, sehr gut! Aber der Epochenwechsel fiel dann leider doch aus.

Der zweite dramatische Kipppunkt

Ein zweites Mal standen wir vor dem Beginn eines Epochenwechsels, als sich der tragische Fahrrad-Unfall in Berlin im Frühjahr 2022 ereignete und eine orchestrierte Kampagne der Springerpresse und der angeschlossenen Parteien das ganze Land erfasste. Das Phänomen „Letzte Generation“ wurde überall diskutiert. Die Verdrängungsgesellschaft stand erneut vor einer Herausforderung und suchte nach Erklärungen. Nach einem Weg, die Irritation so zu verarbeiten, dass sie zum normalen Getriebe zurückkehren kann. Der LG standen plötzlich alle großen Talkshows offen. Was sie zu sagen hatte, wurde gehört. Die Begründung für die Straßenblockaden war stets, Aufmerksamkeit zu bekommen. Gut, jetzt war sie da.


Die Chance wäre gewesen, die Verdrängungsgesellschaft mit der Realität zu konfrontieren. Mit anderen Worten: vorläufiger Aktionsstopp und Dialog. Denn die eigentliche Herausforderung für die Verdrängungsgesellschaft besteht darin, sich der Wahrheit und damit ihrem Verdrängen zu stellen. Dafür taugen Worte, wenn die Irritation da ist.


Doch es ging anders weiter, es wurde direkt weiter blockiert. Mit der gleichen Erklärung wie zuvor („die Klimakrise ist größer, Aufmerksamkeit ist nötig"), als wäre nichts geschehen. Kein tragischer, damals noch ungeklärter Unfall, keine Talk-Show-Offerten. Damit wurde es der Verdrängungsgesellschaft leicht gemacht. Die Leute sagten sich „Ach so, die wollen nur stören, na dann, kennen wir schon, eine dieser gesellschaftlichen Bewegungen, nerviger als andere, aber davon gibt es viele, das hat nichts mit mir zu tun“. Die LG fand weitere Provokationen (Kunstkleben, Flughafen blockieren). Aber das Muster blieb gleich. Irgendeine Form der Störung halt. Abbruch des Weges zum Epochenwechsel.

Eine unverhoffte, unerkannte, ungenutzte dritte Chance

Dennoch ergab sich kurz darauf eine neue Chance: der Vorwurf der kriminellen Vereinigung, begleitet von Hausdurchsuchungen! Die LG reagierte sofort richtig, indem sie alle dazu aufrief, sich zu positionieren. Dafür oder dagegen? Es gab sogar eine Petition. Per Unterschrift konnte man sich der „kriminellen Vereinigung“ anschließen. Welch‘ eine gigantische Chance für die ganze Klimabewegung!


Eine Million Unterschriften der klimabewussten Gesellschaft und das Spiel mit der Verdrängungsgesellschaft wäre mit geringstem Aufwand neu aufgesetzt worden. Die merkwürdige Rechtskonstruktion der „kriminellen Vereinigung“ bedeutet, eine einfache Unterschrift hätte tatsächlich genügt, um dabei zu sein und eine schwer auflösbare Provokation auszulösen. Augenfälliger und unaufwändiger hätte das fossile Beharren per Kriminalisierung nicht bloßgestellt werden können. Was für eine Gelegenheit! Kein Mensch hätte Autofahrer:innen nerven müssen, dennoch wäre das Signal im Sinne der Klimabewegung überragend gewesen.


Wow, damit hätte die Verdrängungsgesellschaft erstmal zurechtkommen müssen! Leider blieb die Zahl der Unterstützer:innen überschaubar. Vermutlich auf jene begrenzt, die tatsächlich mehr oder weniger aktive Unterstützer:innen waren. Ein Geschenk der Staatsanwaltschaft - leider sträflich missachtet.

Bilanz bis hierher

In der Dimension „Epochenwechsel“ gedacht: Unsere Bewegung kann nur die Feder sein, welche die Gesellschaft kitzelt. Die notwendige Energie muss die Gesellschaft selbst mobilisieren.


Mehrmals hatte ich schon den Begriff der „Verdrängungsgesellschaft“ benutzt, ohne ihn genauer einzugrenzen. Das muss ich nun nachholen, um den direktesten Weg Richtung Epochenwechsel aufzeigen zu können.


Der von FFF geschaffene Schritt wurde mit "normaler Bewegungsarbeit" erreicht. Aber schon hier: Die Menschen erkannten die Chance, deshalb machten sie mit. Wir standen kurz vor der Umwälzung.


Bei den zwei beschriebenen Momenten der Letzten Generation ist es schwieriger, den entscheidenden Punkt zu erkennen, der hier noch unmittelbarer damit zusammenhängt, wie die Verdrängungsgesellschaft tickt.

Dimension der Lösung

Von der „Klimapolitik“ zum „Epochenwechsel“ - die Herausforderung ist größer, als bisher diskutiert. Also wird auch die Lösung eine Dimension größer sein müssen. Wir müssen Geschichte schreiben.


Zunächst: Wer ist der Gegner? Ich würde Thomas Metzinger zustimmen, der in seinem Essay Bewusstseinskultur die „Feinde der Menschheit“ auf unter eine Million Menschen schätzt. Aber der fossile Kapitalismus wird breit getragen. Er bietet uns Menschen (v.a. in den Industrieländern) Arbeitsplätze und Konsumfreuden.


Die meisten „Feinde der Menschheit“ in ihren Konzern-Chefetagen sind schwer zu fassen. Aber wohl noch leichter als der Hauptgegner des Epochenwechsels: Die Verdrängungsgesellschaft verfügt über eine wahre Verdrängungsmaschinerie. „Verdrängung“ klingt Individual-Psychologisch, ist es hier aber nicht. Um dies an nur einem Beispiel zu erklären: Jede Talkshow zu Klimathemen, in der ein:e Klimaskeptiker:in oder -bremser:in mitdiskutiert, ist Teil des Verdrängungstheaters. Denen eine Stimme zu geben, die nur vorgeben, die Realität anzuerkennen, lenkt von der Realität ab. Jede Talk-Show!


Noch weniger hilfreich ist praktisch alles andere im TV-Programm. (Natürlich darf man sich auch mal ablenken – aber das normale TV-Programm besteht aus praktisch nichts anderem. „Wir amüsieren uns zu Tode“.)


Die direkteste Intervention besteht darin, das Verdrängungstheater zu entlarven. Und zwar – vorsicht, leider komplex – (1) sich auf die Realität beziehen (also nicht moralisierend) und (2) das Gegeneinander durch ein Miteinander ersetzen.


Die Klimakrise ist menschengemacht. Aber das bedeutet eben nicht, wie in früheren Auseinandersetzungen, vorrangig gegen andere Menschen oder Gruppen zu kämpfen. Wir müssen zugleich das faktische Verdrängungstheater überwinden, das uns umgibt und das ohne Unterlass durch unsere Gehirne rauscht.


Die damit verbundenen Gedanken und Gefühle müssen wir selbst meistern – immer wieder. Der schnellste und direkteste Weg zum Epochenwechsel ist: Die Verdrängungsgesellschaft konfrontieren, verunsichern, vor Aufgaben stellen. Und zugleich die Lösung aufzuzeigen: Gemeinsam da raus.

Weniger Aufreger, mehr Auswege. Verstörung statt Störung.

Frühere Epochenwechsel hatten markante Auslöser. Die aber durchaus sehr verschieden sein konnten. Bestimmte Menschen sagten, schrieben, taten etwas, das im Nachhinein als Schlüssel erkannt wurde.


Was steht uns heute zur Verfügung? Ein Wissen, das dem Weiterso-Märchen radikal widerspricht und das für jeden Menschen mit ein paar Klicks verfügbar ist. Das ist doch schon mal was!


Diese Fakten wirken nicht alleine. Aber wir können sie nutzen, um der Verdrängungsgesellschaft den Spiegel hinzuhalten. Aktionen sind natürlich ein Weg, um überhaupt gehört zu werden. Aber zugleich sind sie hinderlich. Denn fast immer lösen sie Reaktanz aus (psychologischer Kampf um scheinbar bedrohte Freiheit). Und sie dienen als Projektionsfläche (Abarbeiten an konkreten Menschen / Aktionsformen statt an der realen Bedrohung, die nicht angegangen wird).


Was es letztlich braucht: Dieselbe Botschaft, immer wieder neu verpackt. In vielfältigen Formen und Gestalten. Der Dialog muss störender sein, als die Aktion. Verstörung statt Störung. Aktionen dürfen nicht zur Folkore verkommen, sondern müssen eine Geschichte erzählen, die herausfordert.


Ein konkreter Vorschlag ist es, die Kampagne #UnsereGenerationUnserJob weiterzutreiben. Sie kommt mitten aus der Gesellschaft. Sie ist schon die Gesellschaft in Bewegung. Sie zielt auf den Epochenwechsel, auf die Selbstbesinnung der Gesellschaft. Sie schafft keine Aufreger, sondern zeigt Auswege auf. Klima ist kein „Thema“, sondern eine parteiübergreifende, staatstragende und historisch beispiellose Aufgabe, heißt es dort, unterstützt von prominenten Erstunterzeichner:innen von der Linken bis zur CDU, aus Wissenschaft, Religion, Kultur und Zivilgesellschaft.


Damit ist sie die erforderliche Dimension größer. Potenziell – denn noch ist sie klein. Wer unterstützen will, melde sich! Unabhängig davon sollte die Klimabewegung den Unterschied zwischen Klimapolitik und Epochenwechsel bedenken und in ihrer Analyse und in ihrem Vorgehen stärker von der Verdrängungsgesellschaft ausgehen. Unmoralisierte Realität als Ausgangspunkt, Verstörung vor Störung plus Lösung - wir alle, überparteilich, jetzt.

 


Hier habe ich etwas dazu geschrieben, inwiefern wir Geschichte schreiben müssen.

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