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Wie die Klimabewegung Geschichte schreibt

Christoph Burger • 21. Mai 2023
Am Anfang jeder Demo und Straßenblockade stehen Gedanken, Worte, Pläne.  Dass wirksame Aktionen möglichst groß sein müssen, ist bekannt. Doch die Geschichten dahinter werden zu wenig beachtet. Der Anspruch muss sein, die Verdrängungsgesellschaft insgesamt in Richtung Klimagerechtigkeit zu kippen.

Ohne Geschichte kein Bewusstsein

Beginnen wir den Post mit einer persönlichen Frage: Was machen Sie morgens, direkt nach dem Aufwachen?  Und abends, vor dem Einschlafen? Die Gehirnforschung verrät: dasselbe - wie übrigens auch den ganzen Tag über. Sie erzählen sich die Geschichte Ihres Lebens. Sie vergewissern sich, wer Sie sind, woher Sie kommen, wohin Sie gehören, woran Sie glauben, was Sie tun. Ein Vorgang, der pausenlos unbewusst in Ihrem Gehirn abläuft. Ohne diese ständige Selbst-Re-Konstruktion wären Sie - wie alle Menschen - verloren und verwirrt. Sie hätten einen „Filmriss“, handlungsunfähig.


So, wie Sie als Mensch ihre Selbsterzählung brauchen, finden wir auch als Menschheit Halt und Richtung. Wir folgen Erzählungen. Am Anfang stehen Worte, und bald kommt viel mehr hinzu. Das Christentum ist das markanteste Beispiel. Kapitalismus und Kommunismus, die Anthroposophie, die Homöopathie. Hitlers "Mein Kampf". Millionen, zuweilen Milliarden, hoffen, leiden, sterben in der Folge.


Natürlich gibt es viel mehr Geschichten auf der Welt. Die meisten bleiben unbekannte Möchtegerns.  Wieso also haben sich ausgerechnet die genannten Erzählungen gegen die Konkurrenz behauptet? "Die richtige Geschichte zur richtigen Zeit" ist eine Antwort; historisch günstige Umstände oder auch pure Zufälle kommen hinzu. Unbedingt erforderlich ist aber eines: das Werk muss die Menschen trösten, aufmuntern, anrühren. Es muss nichts wissenschaftlich belegt sein. Es muss nicht stimmen. Es darf auch etwas versprochen werden, was dann gar nicht eingelöst wird. Aber, taugliche Antworten auf akute Fragen und Probleme, sind unverzichtbar.

Das Weiterso-Märchen

Die mächtigste Geschichte unserer Zeit hat keinen spezifischen Ursprung. Es gibt weder Gründerväter  noch -mütter. Sie ist - bisher - sogar namenlos geblieben. Dafür erzählen wir sie uns selbst ohne Unterlass in unseren Industriegesellschaften. Man könnte sie das "Weiterso-Märchen" nennen: „wir können im Wesentlichen so weitermachen, wie bisher. Das fossile Zeitalter ist fortsetzbar.“ Die Varianten und Folgen dieser Geschichte sind omnipräsent. Sie sind auf jeder Autobahn und in jedem Industriegebiet zu besichtigen. Überall, wo Menschen fliegen, wo sie mit Beton und Styropor neue Häuser errichten und Flächen versiegeln. Wo sie Gift auf Äcker spritzen. Wo sie für den Kauf von Billig-Produkten über Ausbeutung hinwegsehen. Wo davon ausgegangen wird, dass grünes Wachstum die Lösung ist und „Technologieoffenheit“ es ermöglicht, ungehemmt weiterzukonsumieren. Dort, wo vor „zu viel Klimaschutz“ gewarnt wird. Oder vor dem „Heiz-Hammer“.


Das "Weiterso-Märchen" verträgt sich trotz seiner weltumspannenden Herrschaft ausgesprochen schlecht mit der Realität. Wie aus jedem IPCC-Bericht hervorgeht, muss unser fossil angetriebenes Leben enden. Und zwar ziemlich plötzlich. Anschaulich gemacht an einer einzigen Maßnahme aus dem Katalog von Prof. Helge Peukert: „der private Benzin- und Dieselverbrauch liegt zukünftig bei 500 Liter pro Person/Jahr; er ist nicht übertragbar und in 5 Jahren auf 0 zu reduzieren“. Peukert überträgt die wissenschaftlichen Befunde zu den Ökokrisen in Vorschläge für adäquates politisches Handeln - ohne Rücksicht darauf, ob dieses politisch durchsetzbar wäre. Ein maximaler Kontrast zum Weiterso-Märchen.

Die Macht der Worte

Der Erfolg des Weiterso-Märchens beruht darauf, dass (fast) alle daran glauben wollen. Wir wollen lieber verdrängen.


Im Einklang mit dieser Annahme geht die Wortblockade davon aus, dass sich Menschen freiwillig ändern - oder gar nicht. Dass wir verschiedenen Machteinflüssen ausgesetzt sind, spricht nicht wirklich dagegen, vor allem nicht in demokratischen Industriegesellschaften. Jede Analyse führt stets zu Macht und Geld. Selbstverständlich müssen Strukturen und Systeme untersucht werden. Aber, stark verkürzt gesagt: Jede Macht ist die Macht von Menschen.


Klar, nur wenige Fossilkonzernchefs, Superreiche und Politiker:innen treiben die Klimakrise als Täter voran (Thomas Metzinger bezeichnet sie zutreffend als "Feinde der Menschheit"). Aber sie werden breit getragen. „Geht arbeiten!“ ist der meistgehörte Ruf bei den Straßenblockaden der Letzten Generation. Anders formuliert: „Wir wollen ans Weiterso-Märchen glauben! Stört uns nicht dabei!“.


Der Kern jeder einflussreichen kulturellen Entwicklung in der Menschheitsgeschichte lässt sich auf Worte zurückführen. So unglaublich das erscheint, angesichts von Revolutionen oder Weltkriegen. Am Anfang war das Wort.


Sind die richtigen Gedanken da, brauchen sie ihre Zeit, fruchtbaren Boden, Zufälle - und eine gute Strategie kann nicht schaden. In jedem Fall geht es nicht darum, eine Geschichte zu erzählen, sondern sie zu machen! Zu den Worten müssen reale Menschen treten, die reale Dinge tun, Routinen einhalten oder Rituale praktizieren, Armeen aufstellen, Organisationen gründen ....

#UnsereGenerationUnserJob

Was wir dem Weiterso-Märchen entgegenstellen, läuft unter dem Hashtag #UnsereGenerationUnserJob. Zu Beginn stand ein offener Brief. Als wir* Erstunterzeichner:innen anfragten und am Gründonnerstag 2023 unseren Aufruf veröffentlichten, war nicht voraussehbar, was er auslösen würde. Zu erwarten war: nicht viel.


Um etwas groß zu machen, braucht es meist sehr viele Anhänger:innen oder Macht. Alternativ dazu hatte ich das Konzept skizziert, Riesen zu kitzeln. "Riesen" sind zum Beispiel die Springerpresse und die „angeschlossenen“ Parteien. Um sie zu aktivieren, ist ein Entweder-oder-Muster nötig. Daraus können sie ein Freund-Feindschema basteln. Regelverstöße sind hilfreich, um die nötige Aufmerksamkeit zu erregen – und sei es nur harmloser, friedlicher, ziviler Ungehorsam. Oder zumindest das vernehmliche Benutzen eines Tabu-Wortes (z.B. "Klimadiktatur" oder "Sabotage fürs Klima"). Nichts dergleichen konnten wir bieten. Unsere Erwartung war also bescheiden (die Aktion war ursprünglich auch anders geplant).


Was stattdessen geschah: unser Aufruf kam an. Und zwar anders, als gedacht. Er funktionierte als Geschichte. Er wurde verstanden. Er wurde aufgenommen, als sei er vermisst worden. Als hätte endlich, endlich jemand die Wahrheit ausgesprochen. Dass wir die Parteienlogik durch Überparteilichkeit überwinden müssen. Dass wir alle zusammenhalten müssen, um die gigantischen Aufgaben der Menschheit zu bewältigen. Es war wie der Kinderruf: „Sieh nur, der Kaiser ist nackt“. Wir hatten Worte gefunden, die auf Fakten basieren und die schonungslos die tragische, wenig aussichtsreiche Lage der Menschheit skizzieren und den einzig möglichen Ausweg aufzeigen: Das sofortige, gemeinsame, überparteiliche Handeln. Die Gegenerzählung zur Verdrängungsgesellschaft und ihrem Weiterso-Märchen.

Möglichst viele Spiegel aufstellen - was jetzt passsieren muss

Wo stehen wir aktuell? Über 400 prominente Erstunterzeichner:innen in wenigen Tagen, über 50 Pressemeldungen, ein Erfolg, zweifellos. Doch der Anspruch muss ungleich höher sein. Der Anspruch muss sein, die gesamte Gesellschaft in Richtung Klimagerechtigkeit zu kippen. Bewegungen müssen für dieses Ziel vor allem wachsen. Mit zunehmender Größe haben sie immer stärker mit den Abwerhmechanismen der Verdrängungsgesellschaft zu kämpfen: Projektion und der Reaktanz. Und wehe, die Bewegung schrumpft.


Geschichten genießen demgegenüber eindeutige Vorteile. Gut ausgewählte Worte bieten keinerlei Projektionsfläche. Solange sie nicht moralisieren, lösen sie keine Reaktanz aus. Sie brauchen keine Macht und keine Masse Menschen, die sie verfechten. Sie begnügen sich damit, die Fakten auf ihrer Seite zu haben. Sie sollen gar nicht in eine Bewegung münden. Ihr Ziel ist es vielmehr, der Verdrängungsgesellschaft den Spiegel vorzuhalten. Und damit die Kräfte zu wecken, die in der Gesellschaft selbst stecken. Diese Kräfte braucht es. Sie sind gewaltiger, als es eine Bewegung je sein kann.


Was dabei hilft: Je offensichtlicher die Verdrängungsgesellschaft verdrängt, desto mehr kräftigt sie die faktenbasierte Gegenerzählung. Es ist unsere Generation und unser Job. Es geht um fast alles und wir müssen es jetzt tun. So lautet die ehrliche und mutige Geschichte einer Menschheit, der es auch im Scheitern noch um Würde und Selbstachtung gehen kann. Aktuell können wir sogar noch eine kleine Restchance wahren, die menschliche Lebenswelt lebensfreundlich zu erhalten.


Dieser Geschichte wohnt eine Kraft inne, der die Verdrängungsgesellschaft erliegen könnte. Wichtig ist jetzt, dass wir systematisch auf das Konto dieser Geschichte einzahlen. Wir müssen dringend möglichst viele Spiegel aufstellen. Deren gemeinsamer Ursprung erkennbar bleiben muss.


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Wer uns unterstützen mag und diese einmalige Chance nutzen, das Weiterso-Märchen zu entzaubern, möge sich bitte melden. Wir erzählen nicht nur Geschichte, wir machen sie. Wir haben einen Plan! :-).


*wir=v.a. Bruno Wipfler, Heinrich Strößenreuther und ich vom Klimastrategienetzwerk (unterstützt von v.a. Prof. Dr. Wolfgang Lucht, Dr. Jörg Alt, einigen Menschen von Psychologists4Future, Schwarm4Future), vielen Dank auch an Katja Diehl, Prof. Dr. Claudia Kemfert, Dr. Gregor Hagedorn!

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